Würde und Solidarität Teil 5

Gedächtnisprotokoll

Vortrag und Diskussion mit Dr. Holger Thiel, freier Philosoph

Thema: Würde und Solidarität (5.)

Zeitraum: Montag, 16. September 2024,18:00-20:00 Uhr,

Ort: Treff Britz, Franz-Körner-Str. 61a, 12347 Berlin, Veranstaltungsraum der BG IDEAL

A.     Anknüpfungspunkte zu unserer letzten Veranstaltung Würde und Solidarität am 15.7.2024

Zu Beginn unserer letzten Veranstaltung stand die Vielfalt menschlicher Würde und der Bedeutungskontext von „Bitte“ – bzw. „unsere Wünsche an andere“ im Mittelpunkt unseres Gespräches. Anschließend haben wir begonnen, persönliche Leid-Erfahrungen im Zusammenhang mit Würde zu betrachten.

 

B.     Weiterführende Gedanken, Impulse und Fragen im dialogischen Gespräch am 16.9.2024

Würdevoller Umgang mit Leid: Aus lebenspraktischer Perspektive besprechen wir, welch große Bedeutung Trost im Zusammenhang mit Leid-Erleben hat. Beispiele: unsere Trost-Möglichkeiten und Trost-Grenzen; Trost als Ermutigung; Leid ummünzen in innere Ruhe und Hoffnung; Umgang mit Leid in anderen Kulturen; Trost spenden, Trost erdulden und erleiden müssen; Kritik an Allgemeinplätzen, die einen standardisierten Umgang mit Leid zum Inhalt haben; offene Frage, ob wir dem leidenden Menschen das Leid von außen wegnehmen dürfen / müssen, wenn wir können (wegen der Gefahr der Entwürdigung);  Hoffnung und Zuversicht dem Leidenden vermitteln; uvam.

Die Vielfalt persönlicher Erlebnisbeiträge zu diesen Fragen verdeutlicht, dass Trost (den anderen trösten) dann heilsam wirken kann, wenn die Begegnung mit dem Leidenden auf einer einfühlsamen, empathischen und die Grenzen von ICH und DU respektierenden Grundlage erfolgt. Bedeutsam ist hier, dass dem Leidenden sein eigenes Tempo zugestanden wird. Äußerungen wie z.B. „Reiß Dich mal zusammen.“, werden in diesem Zusammenhang als wenig würdevoll empfunden.

Ein würdevoller Umgang mit Leid ist gekennzeichnet durch Echtheit und Authentizität im Mit-Empfinden von Schmerz und Leid.

Leid im Internet: Im Internet begegnen uns pausenlos Nachrichten und Meldungen in Form von Text-, Sprach- oder Videoclips, die das Leid von Menschen in spezifischen Lebenssituationen medial transportieren. Beispiele: Videos aus Kriegsgebieten, die das Leiden von betroffenen Menschen zweidimensional erahnen lassen; Textnachrichten zu Gewalt in Familien, staatlichen, sportlichen, kirchlichen Einrichtungen und Betrieben; Text-, Sprach- und Videonachrichten zu Kriminalität im öffentlichen Raum zu Auswirkungen von Pandemien, zu Krankheiten und Umweltkatastrophen.

NutzerInnen des Internets ist aufgefallen, dass das medial kontinuierlich verbreitete Leid von Menschen (über Krieg, Mord, Tod und Gewalt) hin- und wieder (oder gezielt?) durch lustige Videos, sogenannt „Katzen-Videos“ abgepuffert wird. Leid im Internet ist Leid auf Distanz. Je näher ein Mensch dem Leid des anderen ist, desto eher können „echte“ Gefühle bzw. Mitgefühle im dreidimensionalen Raum entstehen.

Leid – aus der Außen- und der Innenansicht:  

Die Perspektive „Leid aus der Außenansicht“ beschreibt das Leid nach den Erkenntnissen der Wissenschaft und den Erfahrungen von Menschen, die in Hilfs- und Sozialdienst-Organisationen tätig sind (sogenannte professionelle Dienstleister). In der Perspektive „Leid aus der Außenansicht“ wird der/die Leidende leicht zum Objekt gemacht. Die sogenannte „bevormundende Fürsorge“ – im Gegensatz zur „befreiende Fürsorge“ - ist hierein Beispiel dafür, dass ein würdevoller Umgang mit Leid nicht einfach zu verwirklichen ist.

Kennzeichnend für die Perspektive „Leid aus der Innenansicht“ ist die Erkenntnis, dass Leid einmalig ist. Dies kann bedeuten: Ich kann mich niemals vollständig in das Leid eines anderen Menschen einfühlen. Für den Fall eines Suizides, der von einem sorgenden Angehörigen oder Freund nicht verhindert werden konnte, kann diese Einsicht helfen, loszulassen, ohne den aufkommenden Fragen nach Schuld und eigenem Versagen Raum zu geben. Die Frage, ob es im Laufe von intensiven menschlichen Beziehungen möglich sein wird, mit dem leidenden Menschen mitdenken zu können um einen Suizid zu verhindern bleibt offen. Der würdevolle Umgang mit Menschen, die des Lebens überdrüssig sind, ist in jeder Hinsicht für jeden Menschen eine sehr große menschliche Herausforderung. Hier kann es hilfreich sein, mit anderen Menschen zusammen nach anderen Lösungen zu suchen, das zentrale Leid des anderen zu erkennen, wahrzunehmen und konkret anzusprechen.

Probleme beim Zugang zum Leiden eines Menschen: Die Herausforderung, einen angemessenen Zugang zum Leiden eines Menschen zubekommen, besteht - beispielsweis bei Leiden durch Krankheiten – zum einen darin, Krankheiten nach allgemeinen Gesichtspunkten zu betrachten (Wissenschaft/ Medizin / Aspekt Allgemeines) und darüber hinaus Krankheiten bzw. Leiden im individuellen Rahmen zu betrachten (Aspekt Besonderheit). Diese Problematik führt uns zu den Grenzen der Naturwissenschaft.

Exkurs: Die Philosophie hat seit Jahrtausenden versucht, Antworten auf die zentralsten Fragen des Mensch-Seins zu finden (z.B. die Sinnfrage). In ihrer Anfangszeit ging es darum, ein Gesamt-Verständnis von der Wirklichkeit zu bekommen. Erst in der Neuzeit (etwa ab dem 14.Jh) hat sich die Philosophie langsam in viele Einzelwissenschaften wie Naturwissenschaften, Mathematik, Jurisprudenz, Musik, Medizin und viele weitere aufgeteilt. Im Zuge kontinuierlicher Ausdifferenzierungen bis heute hat sich eine nahezu unüberschaubare Anzahl von Einzelwissenschaften gebildet, die versuchen spezialisierte Antworten auf spezialisierte Fragen zu geben. Mit Entstehung spezieller Wissenschaftszweige in der Moderne wurde die Subjekt-Objekt-Trennung zum Standard wissenschaftlicher Untersuchungen. Durch diese Vorgehensweise wird es schwierig, angeblich objektive Befunde wie z.B. menschliches Leiden in Krankheitsphasen mit  subjektivem Erleben wie Empfindungen der eigenen Würde in Zusammenhang zu bringen. Das Empfinden eigener Würde kann von den aktuellen wissenschaftlichen Disziplinen nicht im Zusammenhang mit Leid-Erfahrungen untersucht und erklärbar gemacht werden.  

Frage zum Weiterdenken: Kann ein Mensch Würde erst erleben, wenn er eigenes bzw. fremdes Leid erfährt?

Anmerkungen– aus meiner Ich-Perspektive

Der intensive Austausch in unserem heutigen Gespräch hat mich wieder staunen lassen. Dankbar bin ich für die Möglichkeit, mich mit interessierten Menschen zu den nicht einfachen Fragen des Leidens, der Bewältigung von Lebenskrisen und des würdevollen Umgangs mit Schicksalsschlägen auszutauschen.

Berlin, 02.12.2024 / Otto Hofmann

Foto von Andraz Lazic auf Unsplash

Wege, sich zu engagieren

Wir sind ein gemeinnütziger Verein, der als Initiative auf viele helfende Hände angewiesen ist. Von der eigenen Mitarbeit über Partnerschaften und finanzieller Unterstützung. Denn nur gemeinsam können wir uns zu einer wirkungsvollen Bewegung entwickeln.

Engagieren